Einschränkungen von Kommunikation ohne physischen Kontakt oder mehr Raum für vielfältige Stimmen?
Gedanken zu interkulturellen Herausforderungen für internationale Konferenzen in Zeiten der Corona-Pandemie
„Unter den Dingen, die von diesem sehr seltsamen Jahr in Erinnerung bleiben werden, ist auch das Wort ,physisch‘. Gebraucht wird es derzeit, um etwas als besonders zu markieren, das noch vor kurzem selbstverständlich war“, so der Autor Tilman Spreckelsen zur Verschiebung bzw. teilweisen Virtualisierung der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2020 (FAZ, 8. Juli 2020, S. 11).
Katrin Nissel
- Wissenschaftliche Mitarbeiterin
- Zentrum für Interkulturelles Management & Diversity der Hochschule Bremen (HSB)
fördert am Zentrum für Interkulturelles Management & Diversity der Hochschule Bremen (HSB) den Dialog zwischen Wissenschaft, Kultur, Bildung, Politik und Wirtschaft, entwickelt Konzepte zur Vermittlung Interkultureller sowie Diversity-Kompetenz und organisiert Veranstaltungen zur „Gestaltung von Vielfalt“.
weitere InformationenKatrin Nissel
- Wissenschaftliche Mitarbeiterin
- Zentrum für Interkulturelles Management & Diversity der Hochschule Bremen (HSB)
Ihr Forschungsinteresse gilt unterschiedlichen Kommunikations-, Lehr- und Lernkulturen, Kulturtheorien im Ländervergleich, der Verknüpfung zwischen Wissen, Macht und Kultur sowie Diversity Management als Mittel zur Veränderung von Strukturen. An der Fakultät Wirtschaftswissenschaften der HSB lehrt sie „Interkulturelle Kommunikation“, „Diversity Management“, „Kulturwissenschaften Brasiliens und Europas“. Zudem koordiniert sie den akademischen Austausch mit brasilianischen Partneruniversitäten, Unternehmen, Forschungs- und Fördereinrichtungen. In Hamburg, Lissabon und Rio de Janeiro studierte Katrin Nissel Portugiesische Philologie, Germanistik und Philosophie (M.A.). Am Lektorat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Belo Horizonte (Brasilien) sowie als Projektmanagerin von internationalen Konzertreihen und Tanzfestivals, erlebte Katrin Nissel wie bereichernd aber auch wie herausfordernd die Kommunikation zwischen verschiedenen Kulturen sein kann.
Internationale Konferenzen und Messen leben vom Ideenaustausch, von Wissenstransfer, von Perspektivenvielfalt, von der Möglichkeit, Einblicke in andere ‚Welten‘ zu erhalten, von unterschiedlichen Kommunikations- und Vortragsstilen, von Begegnungen.
Hätten wir uns vor einem halben Jahr ausmalen können, dass es eine Zeit geben wird, in der Wissenschaftler*innen, Verlagsmenschen, Künstler*innen, Veranstaltungsmacher*innen aus aller Welt nicht mehr einfach von einem Ort zum anderen reisen können, in der Konferenzen, Kongresse, Konzerte gar nicht oder aber rein virtuell, ohne physische Anwesenheit der Vortragenden und Teilnehmer*innen, ohne Präsenz eines Publikums, stattfinden würden? Wohl kaum.
Der Campus-Roman "Changing Places" des britischen Schriftstellers David Lodge (erschienen 1975), fängt eine neue Ära des transatlantischen akademischen Austausches ein, der u.a. durch Massenflugverkehr ermöglicht wurde, spielt mit Stereotypen des amerikanischen und britischen Bildungs- und Universitätssystems. Im Folgeroman "Small World" wird der akademische Konferenzkreislauf von Tokio über Jerusalem bis nach Honolulu zu einer Voraussetzung für Weichenstellungen in der wissenschaftlichen Karriere aber auch im Hinblick auf zwischenmenschliche Begegnungen. In beiden Romanen stehen Reisen, Rollentausch, Zufallsbegegnungen, die ihre Wirkung erst später zeigen, im Vordergrund. Und all dies war noch bis März 2020 die Wirklichkeit internationalen Austauschs.
Welche möglichen Folgen haben Reise- und Kontaktbeschränkungen für Kommunikation, Beziehungsaufbau und für Netzwerken auf internationalen Veranstaltungen?
Die Gelegenheit zu informellen Zusammenkünften auf internationalen Kongressen wird weltweit geschätzt. Koinzidenzen, so dass man beispielsweise feststellt, über mehrere Ecken eine Person gleichermaßen zu kennen, das Unvorhergesehene, etwa dass man im Zweiergespräch plötzlich ein neues Forschungsinteresse entdeckt, prägen diese Momente. Es geht neben der fachlichen Erweiterung des Horizonts um interkulturelle Begegnung und Verständigung.
Als Lehrende und Forschende im Bereich der interkulturelle Kommunikation bieten mir internationale Konferenzen auch interessante Einblicke in einen Kosmos, in dem deutlich wird, welche Einflüsse kulturelle Prägungen auf Kommunikations- und Vortragsstile oder auf unterschiedliche Erwartungen an Gastfreundschaft haben, welche Bedeutung den Pausen und dem informellen Austausch zukommt. Auf Konferenzen zeigen sich so manche kulturellen Unterschiede, was sehr bereichernd sein kann. Durch das Wegfallen der physischen Begegnung wird all dies eher ausgeblendet: Begrüße ich Teilnehmer*innen mit Küsschen, einer Umarmung oder einem Handschlag? Vernetze ich mich eher, indem ich fachlich anknüpfe oder indem ich über persönliche Interessen, Hobbys, die Familie, über Lebensumstände spreche? Und wie werden diese unterschiedlichen Herangehensweisen von meinem Gegenüber wahrgenommen? Wenn ich auf Kongressen in Brasilien während des informellen Teils vorwiegend über meine Forschung spreche, kann ich vielleicht als arrogant und besserwisserisch gelten. Wie wichtig ist mir ‚Small Talk‘, wie wichtig Fokussierung? Manche pflegen eine Kultur des Vortragablesens, andere das Entertainment oder die Interaktion. Bei manchen haben Gastfreundschaft, die Herstellung einer Gemeinschaft unter den Forschenden, das Kennenlernen neuer Menschen oder das Wiedersehen mit alten Bekannten tendenziell einen höheren Stellenwert als die Expertise der Vortragenden oder die Wahl der Themen.
Herausforderungen für Austausch und Vernetzung bei virtuellen Kongressen
In Zeiten der Corona-Pandemie gibt es aufgrund von Reise- und Kontaktbeschränkungen virtuelle Kongresse. Vortragende und Teilnehmer*innen sind in kleinen ‚Kacheln‘ sichtbar oder auch nicht. Ist eine Person zu sehen, ist der Radius auf das Gesicht begrenzt. Gestik ist kaum wahrnehmbar, die Mimik wirkt anders, da man in die Kamera schaut. Zu Beginn von virtuellen Kongressen, in der Phase des ‚Einlassens‘, entstehen Momente der Unsicherheit, die Moderator*innen, Vortragende und Teilnehmer*innen oft hilflos wirken lassen. In den Pausen verschwinden die Antlitze meist, wenn sie überhaupt vorher sichtbar waren. Es gibt keine Zwiegespräche und keinen Austausch in kleineren Gruppen. Der Rahmen verleitet eher zur low-context Kommunikation, zu einer Kommunikation, die sehr direkt und explizit ist. Wie empfinden Menschen aus eher kontextreichen Kommunikationskulturen, die es gewohnt sind, mehr zwischen den Zeilen zu lesen, die Atmosphäre mit wahrzunehmen, Gesten und Mimik zu deuten, diese Situation? Was, wenn man sich gerade im internationalen wissenschaftlichen Austausch aufgrund der Bedingungen eher auf einen sehr sachlichen und auf das Wesentliche fokussierten Kommunikationsstil ‚einschwört‘? Was bedeutet das letztendlich für Austausch und Vernetzung, den so wichtigen Nebenwirkungen internationaler Konferenzen? Noch kennen wir die langfristigen Folgen nicht.
Doch was könnte als Chance der digitalen Transformation begriffen werden? Über virtuelle Räume können wir vielleicht Kongresse noch internationaler, diverser und inklusiver gestalten, mehr Menschen, die aufgrund von bestimmten Umständen, von Behinderungen, mangels finanzieller Mittel etc. nicht reisen können, dafür gewinnen, teilzunehmen.