"Die Gaming-Industrie wird uns in die neue Welt führen"

GCB FutureTalks #18 mit Anja Osswald, Managing Director bei PHOCUS BRAND CONTACT

22.10.2020

Als Geschäftsführerin der Veranstaltungsagentur PHOCUS BRAND CONTACT sowie als Herausgeberin der Beyond Realities-Studie hat sich Anja Osswald bereits früh mit den virtuellen Veranstaltungsformaten und -elementen der Zukunft auseinandergesetzt. Ihre Erfahrungen teilte sie nun mit Matthias Schultze, Managing Director des GCBs.

 In dem Gespräch bot Anja Osswald unter anderem wertvolle Einblicke in die Entwicklung zukünftiger Veranstaltungskonzepte sowie in die zukunftsweisende Rolle der Gaming-Branche. In diesem Zusammenhang wurde auch die Bedeutung des interdisziplinären Austausches herausgestellt und auf die Rolle von teilnehmerzentrierten Veranstaltungskonzepten eingegangen.

Matthias Schultze: Ich freue mich, dass wir heute ein wenig Zeit haben, um uns über Augmented-, Virtual- und Mixed-Reality zu unterhalten. Ihr habt es in eurer Studie so schön mit dem Titel "Beyond Realities" beschrieben. Was verbirgt sich dahinter?

Anja Osswald: Mit der Studie wollten wir hinterfragen, ob die Realität in der Anwendung dieser neuen Technologien den aktuellen Hype auch wirklich rechtfertigt. Wir haben in der Vergangenheit tolle Projekte mit unseren Kund*innen realisieren können, doch trotzdem konnten diese die Erwartungen nicht immer vollends erfüllen. Deshalb stellten wir uns die Frage, ob die Technologie überhaupt schon so weit ist, neue Erlebnisse und Immersion, wie wir sie uns im Brand Experience Bereich vorstellen, zu erschaffen.

Denn es ist ganz klar: Die neuen Technologien haben noch ihre Schwächen und aufgrund fehlender Hardware sind wir aktuell noch nicht in der Lage, das Alleinstellungsmerkmal von Veranstaltungen, Events und Kongressen, nämlich das Gruppenerlebnis, digital zu ermöglichen. Mittels Befragungen, Erhebungen in verschiedenen Fokusgruppen und über Expertengespräche haben wir daher versucht, den Status Quo der neuen Technologien zu erfassen.

Der persönliche Austausch spielt seit jeher eine vordergründige Rolle für Veranstaltungsteilnehmer*innen. Wie können AR- und VR-Veranstaltungen dieses Erlebnis ersetzen oder vielleicht auch nur ergänzen?

Wenn wir von Events oder Kommunikation im Raum sprechen, dann hat dieser Raum bislang auch immer Wände und Begrenzungen gehabt. Das Schöne an den Extended Reality-Formaten ist aber, dass diese Begrenzungen aufgehoben werden und die Räume nun wirklich offen sind. Somit wird das Teilnehmer*innen-Erlebnis weiter in den Vordergrund gerückt.

Nach über 20 Jahren im Eventmanagement merke ich: Es fehlt mir eine Dimension. Es fehlt an Möglichkeiten zu träumen, wegzufliegen und tatsächliche Begeisterung auszulösen, welche auch nachhaltige Veränderung bewirken kann. Genau das können diese Technologien leisten. Für mich ist allerdings auch klar: Analoge Formate werden nicht ersetzt, sondern immer ergänzt werden. Es braucht die Emotionen einer persönlichen Begegnung gepaart mit der Chance, räumliche Grenzen zu sprengen.

Wir erleben gerade eine Art Grenzgänger-Situation: Wir sind zu analogen Zeiten aufgewachsen und lernen nun die virtuellen Welten kennen. Eine solche Grenzsituation hat natürlich auch viel mit Verantwortung zu tun, denn wenn wir neue Dinge ausprobieren, dann müssen wir auch sicherstellen, dass eine gute Umsetzung für alle Beteiligten ermöglicht werden kann. Welche Rolle misst Du den Veranstalter*innen und Anbieter*innen bei?

In der Tat sehe ich hier eine große Verantwortung. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir die Zeit nicht zurückdrehen können. Deshalb macht es auch keinen Sinn, die neuen Technologien zu verteufeln. Letztlich liegt es doch an uns, ihnen Werte mitzugeben und zu definieren, wie wir sie einsetzen werden. Vor vier, fünf Jahren haben wir beispielsweise erstmals 360 Grad-Erlebnisse ermöglicht. Mit Blick auf Themen wie Motion Sickness oder auch der Aufklärung zwischen Realität und Vision wurde uns nochmals bewusst, welche Rolle wir in dieser Mitgestaltung spielen können und müssen. Diese Verantwortung liegt aber auch bei allen anderen Beteiligten der Veranstaltungsbranche.

Andererseits werden uns immer wieder unsere Grenzen aufgezeigt und wir stellen fest: "Moment mal, die Teilnehmer*innen sind noch gar nicht so weit." Wir können eben nicht alle analogen Formate und Inhalte einfach eins zu eins in den virtuellen Raum verlegen. Wenn wir tatsächlich Immersion betreiben möchten, dann müssen sich unsere Gehirne erst langsam daran gewöhnen. Und gerade in diesem Prozess sehe ich unsere Verantwortung.

Wir müssen also lernen neu zu denken und können analoge Erfahrungen nicht eins zu eins in die virtuelle Welt transportieren. Ulrike Tondorf von der Bayer AG gab uns vor Kurzem spannende Einblicke in die Konzeption virtueller Veranstaltungen. Sie geht von einer ganz neuen Bedeutung eben dieser aus. Wie stehst Du zu diesem Thema und welche Fähigkeiten werden zukünftig gefragt sein, um eine gute Veranstaltungskonzeption zu ermöglichen?

Ich glaube, die wichtigste Disziplin, und das habe ich selbst auch sehr lange negiert, wird tatsächlich die Gehirnforschung sein. Wir müssen uns fragen: Wie funktioniert eigentlich unser Denken? Und was kann unser Gehirn überhaupt wahrnehmen? Als die Bilder damals Laufen lernten, rannten die Menschen schreiend aus den Räumen. Vor einer ähnlichen Herausforderung stehen wir aktuell. Wenn wir wirklich verstehen wollen, wie unser Gehirn Erlebnisse wahrnimmt, dann müssen wir uns mit interdisziplinären Wissenschaften beschäftigen und uns auch wirklich darauf einlassen.

Vor ein paar Jahren haben wir beispielsweise ein 7D-Kino für einen unserer Kunden umgesetzt. Die meisten Teilnehmer*innen haben sich zu Beginn zwar umgeschaut, doch den Rest der Präsentation haben sie nur noch nach vorne geschaut. So haben wir es schließlich gelernt. Diese Erfahrung lehrte mich, dass wir die Teilnehmer*innen nicht einfach mit allen Fortschritten der Technik konfrontieren können. Stattdessen müssen wir sie Schritt für Schritt mitnehmen und an neue Formate heranführen. Wir haben dafür noch keine Patentlösung gefunden.

Uns steht eine spannende Zukunft bevor und ich glaube, wir brauchen noch mindestens drei bis fünf Jahre, um wirklich zu begreifen, wie diese Prozesse funktionieren. Hierbei können wir uns sehr stark an der Gaming-Industrie orientieren, die schon vor fünf Jahren Opinion Leader war und uns nun in die neue, unbekannte Welt führt. Zudem brauchen wir reichlich Geduld. Ich tue mich hier zwar selbst noch ein bisschen schwer, aber gerade wenn wir die breite Masse mitnehmen möchten, müssen wir Geduld zeigen.

Ungeduld ist gerade in der Krise ein wichtiger Antrieb. Deshalb bin ich dankbar, dass Ihr Euch in der Studie auch konkret mit diesen Themen auseinandergesetzt habt und nicht nur auf einer theoretischen Ebene stehen geblieben seid. Der amerikanische Marketing-Guru Simon Sinek stellt gerne den "Reason Why", also den Zweck einer Sache, in den Vordergrund. Wie siehst Du die neuen Technologien im Kontext der Live-Kommunikation und dem "Reason Why"? Was glaubst Du, wird sich diesbezüglich zukünftig ändern?

Das ist eine sehr spannende und nicht einfach zu beantwortende Frage, denn wenn der Mensch sein eigenes Handeln oder sein eigenes Unternehmen hinterfragt, dann wird schnell klar, wie schwer die Frage nach dem "Reason Why" tatsächlich ist. Wir haben vor zwei bis drei Jahren unseren "Reason Why" gefunden und dieser funktioniert - Gott sei Dank - sowohl im analogen wie auch im digitalen Bereich.

Für uns geht es beispielsweise immer darum, Begeisterung für eine bessere Zukunft auszulösen. Hierfür werden analoge und digitale Formate nötig sein. Wo wir sehr oft Schwierigkeiten sehen, und teilweise auch Kund*innen verlieren, ist, wenn wir darauf verzichten, bestimmte Technologien nur deshalb einzusetzen, weil sie zur Verfügung stehen. Wenn wir uns die Frage nach dem Sinn stellen, dann gilt es die Menschen mitzunehmen und zu begeistern. Da reicht schon ein kleiner Gedanke, der über Veranstaltungen, Messeauftritte oder Gespräche entfacht wird. Genau hierbei können die neuen Technologien wahnsinnig gut helfen. Sie unterstützen uns, unsere Denk- und Vorstellungshorizonte zu erweitern und Neues zu erleben. Ansonsten bleiben wir innerhalb der zuvor angesprochenen Begrenzungen limitiert.

Hinzu kommt: Wir werden auch nicht jünger, werden mit der Zeit immer eingefahrener und plötzlich kommen neue Technologien, die eine ganz neue Dimension eröffnen. Das lässt mich auch immer wieder mit dem Gedanken zurück: "Das muss ich erst einmal reflektieren." Natürlich sind die neuen Möglichkeiten genau hierfür geschaffen worden, aber trotzdem muss ich mir vorher darüber im Klaren sein, welchen Zweck ich mit den neuen Formaten verfolgen möchte und welche Reaktionen ich anstrebe. Und dann werden wir wahnsinnig viel Spaß haben.

Ihr habt nun euren Purpose gefunden, aber wie sieht deine Vision der zukünftigen Messe-Live-Kommunikation aus?

Ich glaube fest an eine ganz langweilige Weisheit: Die menschliche Sehnsucht nach Begegnung wird niemals aufhören. Das ist wohl auch der einzige Grund, weshalb Messen überhaupt noch überleben. Interessierte könnten sich mittlerweile alle Informationen aus dem Netz holen, aber die persönliche Begegnung - dieses Schwirren in der Luft, das spontane Treffen oder das gemeinsame Kaffee-Trinken - wird unersetzbar bleiben. Auf der Messe der Zukunft werden alle Teilnehmer*innen, und zwar weltweit, selbstbestimmt entscheiden wie sie Informationen konsumieren und anderen Teilnehmer*innen begegnen möchten.

Deshalb rate ich auch allen Kund*innen: Bitte hört mit dem "Entweder oder" auf. Es wird zukünftig immer ein "und" sein. Die Frage einer virtuellen Plattform sollte sich nicht erst bei Absage einer Präsenzveranstaltung stellen. Vielmehr müssen wir uns überlegen, wie wir den Teilnehmer*innen einen Mehrwert bieten können. Dieser wird auf verschiedenen Ebenen geschaffen und beschränkt sich nicht nur auf den Veranstaltungstermin selbst. Es geht auch darum, vor, während und nach einer Veranstaltung mit den Teilnehmer*innen im Dialog zu stehen - sowohl face-to-face als auch virtuell.

Und natürlich werden die Menschen auch weiterhin zu Veranstaltungen kommen, denn der persönliche Austausch macht diese Erlebnisse unersetzlich. Aus diesem Grund wird die zukünftige Messe immer eine große Mischung sein. Das mag bei den Kund*innen nicht immer gut ankommen, aber ich bin mir sicher, dass dieser "doppelte Invest" in den kommenden fünf bis zehn Jahren notwendig sein wird.

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